LESEPROBEN
An dieser Stelle werde ich in unregelmäßigen Abständen kurze Texte oder Ausschnitte aus umfangreicheren Werken veröffentlichen. Abgelehntes, Abgelegtes, Angenehmes & Unangenehmes, Fertiges & Unfertiges, kurz: dies & das.
Die Texte werden einige Zeit im Netz bleiben und dann wieder verschwinden. Dies soll kein Archiv werden. Eher ein kleines Guckloch, durch das man gelegentliche Einblicke bekommt, was ich sonst noch so schreibe. Für die veröffentlichten Sachen gibt es ja die Leseproben bei Amazon & Co.
Mark Twain, Venedig und ich
Manchmal ist es sehr frustrierend, Geschichten anderer Autoren zu lesen. Manche schaffen es, mit scheinbarer Leichtigkeit immer die passenden Ausdrücke zu finden, und komplexe Sachverhalte mit wenigen Worten auf den Punkt zu bringen.
Letztens habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder etwas von Mark Twain gelesen. Da war dieses Gefühl wieder. Mark Twain hat ja nicht nur Lausbubengeschichten um Huck Finn und Tom Sawyer geschrieben, sondern beispielsweise auch einen kleinen Bericht von seinem mehrmonatigen Berlinbesuch im Jahr 1891. Dieser Besuch begann im November. Warum weiß niemand. Vielleicht war es der Gedanke, dass danach alles nur noch besser werden kann. Wurde es aber nicht, Twain fing sich eine Lungenentzündung ein. Außerdem musste er mit dem Kaiser zu Abend essen, was er nicht mochte, aber das hatte wohl nichts mit der Jahreszeit zu tun. Ich selbst kam in einem ziemlich kalten Dezember nach Berlin. Der Frost hatte die Stadt fest in seinem eisigen Griff und ich verstand, warum viele Berlin im Frühling so schön finden. Im Winter ist es einfach scheiße.
Twains Bericht nennt sich „The Chicago of Europe“. Einiges was er geschrieben hat, kann ich gut nachvollziehen. Auch mir sind diese unglaublich breiten Straßen mit den beinahe noch großzügigeren Gehwegen ebenfalls von Anfang an ins Auge gesprungen. Während es den Berlinern nichts besonderes zu sein scheint. Vielleicht ist das ein Teil des viel beschworenen Größenwahns, den man der Stadt gerne attestiert. Vielleicht wird es als normal empfunden, dass die Bürgersteige hier teilweise solche Ausmaße haben, dass man darauf problemlos mit dem Auto einen Ampelstau umfahren könnte. Und man manchmal auch tut, wie ich in meiner Wahlheimat im Pankower Norden besichtigen durfte. OK, es war ein Polizeiauto. Offensichtlich im Einsatz und in Eile. Ich weiß nicht, ob die das offiziell dürfen, oder ob sich außerhalb Neuköllns einfach niemand traut, etwas dagegen zu sagen.
Einige Zeit später wurde ich auf dem selben Bürgersteig frühmorgens von einem Polizeibeamten angehalten. Er bat mich sehr nachdrücklich von meinem Fahrrad abzusteigen. Ich schob es daraufhin über den ansonsten menschenleeren Gehweg und verzichtete darauf, dem Mann die Absurdität dessen darzulegen. Ich blickte mich um, um sicherzustellen, dass mich gerade kein Streifenwagen überholen wollte, und auch der Uniformierte sah mir nach. Vermutlich wollte er sehen, ob ich mich zu einer abfälligen Geste hinreißen ließ. Ich ließ nicht. Es war mal wieder Winter und meine Hände steckten in Fäustlingen.
Mark Twain mochte wohl die Häuser in Berlin. Wenn ich mich recht entsinne, weil sie so stabil und neu und damit modern waren. Ich mag sie auch, hauptsächlich, weil sie alt und damit schön sind. So sind wir doch aus unterschiedlichen Gründen der selben Meinung. Zumindest was die Häuser betrifft, die schon etwas länger hier herumstehen. Angeblich sind die breiten Straßen ein Grund dafür, dass doch so einige Gebäude den Zweiten Weltkrieg überstanden haben. Die Flammen konnten nicht so einfach von einem Häuserblock zum anderen überspringen. Da wünsche ich mir beim Anblick mancher Neubauten vor allem eines: engere Straßen.
Twain schreibt von Berlin als der „bestverwaltetsten Stadt der Welt“. Die Behörden werden von Twain vor allem für die Überwachung der laufenden Bauvorhaben gelobt...das sähe heute anders aus, glaube ich. Lohnt es sich, über den Berliner Flughafenbau Worte zu verlieren? Wohl nicht. Gleichgültig, wann diese Geschichte gelesen (oder vorgelesen) wird, der Airport wird entweder immer noch ein Dauerthema sein, das niemanden mehr interessiert, oder eine längst vergessene Legende.
Zur Verwaltung in Berlin bliebe aktuell zu vermerken, dass ich letztens meiner Liebsten ein originelles Weihnachtsgeschenk gemacht habe. Kurz vor dem Fest war es mir gelungen, ihr für Ende Februar einen Termin im Bürgeramt zu machen. Ihr Personalausweis sollte verlängert werden. Gut, es war nicht das Amt in unserem Stadtteil, aber man sollte nicht zu viel wollen und immer nach Höherem streben. Manchmal muss man mit dem zufrieden sein, was einem das Schicksal gewillt ist zuzugestehen. Gerüchteweise wird kolportiert, der Großteil der Bürgeramtsbelegschaft sei inzwischen damit beschäftigt, die Termine zu verwalten und habe keine Zeit mehr, diese wahrzunehmen.
Zu Mark Twains Zeiten war Berlin mit seiner positiven, optimistischen Aufbruchsstimmung mit dem damaligen Chicago vergleichbar. Und heute? Von Chicago hört man wenig Gutes. Autos werden dort kaum noch gebaut und auch die lokale Blues-Szene ist wohl nicht mehr die selbe.
Vieles, was bereits Mark Twain positiv an Berlin aufgefallen war, ist aber auch heute noch da. Auch wenn so einiges ein wenig in die Jahre gekommen ist. Es ist angestaubt und auf manchem liegt der Braunkohleruß der Zeit. Viele Mauern und Gesichter sind grau geworden, auch nach der Wende. Man könnte auch sagen, der Lack ist allmählich ab und die Substanz hat auch bereits gelitten. Neu streichen wird nicht genügen. Aber den Touristen gefällt es. Die einen sehen nur, was sie sehen wollen, die anderen mögen den morbiden Charme des Verfalls.
Darum, und weil man mir letztens – ungefragt – erzählt hat, dass es kaum eine europäische Großstadt gebe, die eine ähnliche Zahl von Kanälen und schiffbaren Bächen aufweist, behaupte ich nun: Berlin ist das Venedig Deutschlands! Aber bestimmt hat das bereits jemand vor mir formuliert. Besser. Hat mit Leichtigkeit die passenden Ausdrücke und die richtigen Worte gefunden. Womöglich Mark Twain, aber das weiß ich nicht.
Mir egal, ich warte auf die erste Gondel auf der Spree. Wahrscheinlich gab es auch die bereits, wie alles, was überflüssig ist und Touristen lustig finden. Vielleicht gibt es bereits Bier-Gondeln, wo man selber stochern muss. Unter jeder Brücke wird „O sole mio“ gegrölt und wer pullern oder brechen muss hat es nicht weit bis zur Reling. Besitzt eine Gondel eine Reling? Berliner Gondeln vermutlich schon, man muss ja die Plastikbierbecher irgendwo abstellen.